Ich bin ein Buch

Ein Projekt von Petja Dimitrova, Birgit Lurz, Wolfgang Schlag und Thomas Wolkinger im Rahmen der Wiener Festwochen | into the city 2019. 

Dreamthorp

Vier Jahre vor seinem Tod veröffentlichte der fast völlig in Vergessenheit geratene schottische Lyriker und Essayist Alexander Smith (1829/1830-1867) einen melancholischen Essay über ein imaginäres englisches Dorf. In Dreamthorp (1863) scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Es gibt ein verfallenes Schloss, einen Friedhof, eine Kirche, eine Schule und eine öffentliche Bibliothek. Das Leben fließt gleichförmig dahin, unbeeindruckt von den Wirren der Zeit, wie der Erzähler schreibt, der sich hier auf Dauer niedergelassen hat und nicht ohne Pathos über Sein und Schein und die Vergänglichkeit sinniert.

The hands on the church clock seem always pointing to one hour. Time has fallen asleep in the afternoon sunshine. I make a frame of my fingers, and look at my picture. On the walls of the next Academy’s Exhibition will hang nothing half so beautiful!

Einmal beobachtet der Erzähler ein Liebespaar, das sich in der Schlossruine trifft. Mit dem jungen Glück freuen mag er sich nicht. Ob es auf der Welt wirklich noch echte Liebe gebe, fragt er stattdessen. Ob die wahre Liebe nicht längst in Gedichten und Liebesromanen weggesperrt sei? Und sind dann nicht die Bibliotheken die letzten Orte wirklicher Leidenschaft? Wirklich tiefe Gefühle entwickelt er eher, sobald er daran denkt, was die ramponierten Bücher in der Leihbibliothek von Dreamthorp schon alles erlebt haben.

In dieser Bibliothek gibt es natürlich keine Neuerscheinungen. Dafür englische Klassiker wie Henry Fieldings Bildungsroman „The History of Tom Jones, a Foundling“ [„Tom Jones: Die Geschichte eines Findelkindes“] (1749), Samuel Richardsons Briefroman „The History of Sir Charles Grandison“ [Geschichte Herrn Carl Grandison] (1753) oder, die letzte Neuerwerbung, Charles Dickens´ „The Old Curiosity Shop“ [Der Raritätenladen] (1840) über das Schicksal des Waisenmädchens Nell. „Wir haben Krieger und Poeten zu Grabe getragen, Prinzessinnen und Königinnen“, schreibt Alexander Smith, „aber niemanden haben wir mit tieferer Trauer zum Grabe geleitet als die kleine Nell.“

Fahrenheit 451

Gäbe es keine öffentlichen Bibliotheken, Ray Bradbury (1920-2012) hätte vermutlich einen ganz anderen Roman als Fahrenheit 451 (1953) geschrieben. Tatsächlich tippte er die erste Version des Buchs auf einer von zwölf Münzschreibmaschinen im Keller der Powell Library der University of California, Los Angeles – für 10 Cents die halbe Stunde. Überhaupt habe er sich alles, was er wisse, in Bibliotheken angeeignet, hat Bradbury einmal in einem Interview erzählt.

In der Gesellschaft, die Bradbury in „Fahrenheit 451“ beschreibt, gibt es keine Bibliotheken mehr. Bücher sind überhaupt verboten, „Feuerwehrmänner“ wie Guy Montag, die Hauptfigur des Romans – in der Verfilmung von François Truffaut (1966) von Oskar Werner gespielt – verbrennen illegale Bücher und bestrafen deren Besitzer. Die Masse der Bevölkerung hat sich die neuen totalitären Verhältnisse ohnehin gewünscht und glaubt daran, dass Bücher, kritisches Denken nur zu Konflikten führt.

Picture it. Nineteenth-century man with his horses, dogs, carts, slow motion. Then, in the twentieth century, speed up your camera. Books cut shorter. Condensations, Digests. Tabloids. Everything boils down to the gag, the snap ending

Doch Montag kommen Zweifel. Beim Einsatz im Haus einer alten Frau finden sie eine ganze Bibliothek am Dachboden, die Bücher stürzen Montag aus ihren Verstecken entgegen, eines fliegt ihm „wie eine weiße Taube“ in die Hand. Darin liest er nur einen Satz: „Time has fallen asleep in the afternoon sunshine.” Die Frau verbrennt mit ihren Büchern. Montag nimmt heimlich die Bibel aus dem Haus mit, damit beginnt für ihn eine Flucht, die ihn am Ende aus der Stadt, über den Fluss und in die Wälder führt, wo sich der Widerstand gegen das System formiert. Die Menschen dort lernen Bücher auswendig, von Plato, Einstein, Schopenhauer, Gautama Buddha oder Konfuzius, um sie für künftige Generationen zu bewahren. Ein Krieg bricht aus.

Time has fallen asleep in the afternoon sunshine

Im Jahr 2010 und an den Roman „Fahrenheit 451“ anknüpfend beginnt die norwegische Performance-Künstlerin Mette Edvardsen, so etwas wie eine Bibliothek der lebenden Bücher aufzubauen. Seither lernen Performer*innen in aller Welt Bücher auswendig – Goethes „Faust“ (1790), „Paloma“ von Friederike Mayröcker (2008) oder Herman Melville´s „Bartleby, The Scrivener“ (1853). Das Publikum der Performance kann eines dieser „Bücher“ für kurze Zeit „entlehnen“, um aus ihm „zu lesen“. Time has fallen asleep in the afternoon sunshine hat Edvardsen diese Arbeit betitelt, die während der Wiener Festwochen im Mai 2019 in der Erste Bank Arena und in der Hauptbücherei am Gürtel zu erleben war.

Books are read to remember and written to forget. To memorize a book, or more poetically ‘to learn a book by heart’, is in a way a rewriting of that book. In the process of memorizing, the reader for a moment steps into the place of the writer, or rather he/ she is becoming the book (Mette Edvardsen)

Warum Edvardsen das macht? Um Erinnerung, um Gedächtnis geht es ihr. Gerade in Zeiten, in denen Wissen und Vergessen in digitalen Netzen so nahe beieinander liegen und der Unterschied zwischen bloßer Abrufbarkeit und der Verinnerlichung von Wissen spürbarer wird. Wer ein Buch auswendig lernt, sagt Edvardsen, tritt für einen Moment an die Stelle des Autors, schreibt das Buch neu, der Leser wird gewissermaßen zum Buch. „Bücher werden gelesen, um sich zu erinnern, und geschrieben um zu vergessen.“

Ich bin ein Buch

Das Projekt Ich bin ein Buch. Wiener*innen erzählen aus dem Buch ihres Lebens von Festwochen into the City hat versucht, einige Fäden, die diese Bücher und Projekte ausgelegt haben, aufzunehmen und weiterzuspinnen. Von Mitte März bis Ende Mai 2019 waren Leser*innen dazu eingeladen, bei einem von rund 20 Lesekreisen ihr „Lebensbuch“ vorzustellen und daraus vorzulesen. Was zunächst wie ein sehr schlichtes Setting klang, warf bald vielfältige Fragen auf: Was macht überhaupt ein „existenziell wichtiges“ Buch aus? Auf welche Weise beeinflusst es unser Leben? Und lässt sich diese Erfahrung mit Menschen teilen, die man gerade erst kennengelernt hat?

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Die Lebensbuchgeschichten, die bei diesen Lesekreisen geteilt wurden, bilden auch den Kern eines Magazins, mit dem das Projekt abgeschlossen wurde. Thomas Wolkinger hat einige Geschichten ausgewählt und zu kurzen Geschichten und Porträts geformt, die Künstlerin Petja Dimitrova hat sie in gezeichnete Narrative übersetzt, Studierende des Instituts für Sprachkunst der Angewandten haben unter der Leitung von Gerhild Steinbuch mit dem Material interagiert.

LINK: Ich bin ein Buch @Festwochen

Festwochen

Zine “Ich bin ein Buch”, Ausgabe 1, 2.6.2019

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